Berlin- Schöneweide, Sommer 2022

Schonmal einen Busfahrer wegen der Verspätung angesprochen? Sollte er nicht erst seit letzten Donnerstag diesen Beruf ausüben, wird er wohl resigniert geschwiegen haben oder er bot Dir an, eine ganze Runde mitzufahren und die Kaskade an Ereignissen auf Dich wirken zu lassen. Ob jemand in Berlin diese Einladung schon mal angenommen hat? Diese Unternehmung könnt ihr euch sparen und hier gemütlich lesen. Obwohl es Linien gibt, die Potential für einen Fünf-Akter hätten, wähle ich den 166er. Strecke: S-Bahnhof Schöneweide bis U-Bahnhof Boddinstraße. Intervall: alle 20 Minuten.Fahrzeit: 43 Minuten.Wendezeit Boddin: 7 Minuten.  Wendezeit Schöneweide: 20 Minuten. Diese 20 Minuten stehe ich jetzt schon in Schöneweide und warte auf meinen Dienstbeginn. Von meinem Bus keine Spur, die Stellfläche für meine Linie bleibt leer. Bis eben konnte ich noch gemütlich mit meinen Kollegen quatschen. Langsam wird’s kritisch. Nach der Abfahrtzeit losfahren ist nie entspannt. Das Fahrgastknäul blickt von der Haltestelle in unsere Richtung, als wüßten wir mehr. Ja wann kommter denn, der Bus? 7 Minuten nach planmäßiger Abfahrt: ein gelber Streif am Horizont! Bedeutet: er hat 27 Minuten Verspätung. Hinter ihm fährt schon der nächste 166er, der hat „nur“ 7 Minuten Verspätung. Motor meines Busses wird gleich laufen gelassen, Kollege ist erfahren genug um mich mit den Einzelheiten seiner Odyssee zu verschonen. Ablösesteno, schön‘ Feierabend. Abfahrt. Mein Display zeigt minus8. Bis Treptow ringe ich die böse Verspätung auf minus4 nieder. Dann habe ich oben Boddin noch 3 Minuten, das reicht für Klo. In der Elsenstraße klebe ich hinter einem Radfahrer fest. Sveni kommt mir entgegen, vor dem strampelt auch einer. Statt Gruß schwingt er eine unsichtbare Peitsche, als wäre der Radler Svenis Zugpferd. Ach, ich grinse. Das ist cool, wenn man solche Kollegen hat, so macht arbeiten Spaß. Nächste Haltestelle: Rollstuhl. Drei Kinderwagen auch. Stopp danach: Matratze. Zählt wohl als Handgepäck. Ab Sonnenallee schiebt sich der Verkehr nur noch. Naja, so nötig muss ich nicht. Rollstuhl wieder raus. Boddinstraße wird mit minus9 gewendet, die 7 Minuten Wendezeit bekomme ich als „Gutschrift“. Mit minus2 stehe ich an der Abfahrthaltestelle. Gar nicht mal so schlecht. Abbiegen auf die Hermannstraße. Rechts neben mir parken Autos und ich habe an der nächsten Ampel rot. Was sehen meine Augen im rechten Spiegel? Versucht die da gerade wirklich, zwischen den Autos und meinem Bus mit ihrem Fahrrad durchzukommen? Das geht doch schief! Mehr kann ich nicht denken, da öffnet sich die Tür eines Wagens. Rumms. Fahrrad gegen Autotür. Einatmen, Ausatmen. Pech für die beiden, Glück für mich. Dann bin wenigstens nicht ich der Unfallgegner. Weiter gehts. Die Werbellinstraße hinab fährt die nächste Radlerin vor mir auf dem Schutzstreifen. Für bergab ist die ganz schön langsam, was hat die vor? Lieber abwarten. Richtige Entscheidung: Ohne Arm oder wenigstens den Kopf zu bewegen, biegt sie vor mir nach links in die Mainzer Straße. Mäuschen, danke Deinem Schutzengel, dass das hinter Dir eine erfahrene Busfahrerin war. Wird sie nicht, sie hat mich ja noch nicht einmal gesehen. Meine Bremsung war saftig, aber keiner ist im Bus umgefallen, alles gut. Rathaus Neukölln: der Rolli möchte wieder zurück. Auf dem Stellplatz steht eine Frau mit Kinderwagen und beobachtet den Zustieg. Kaum Platz. Auch als er sie streift, rührt sie sich nicht. Ich verdrehe meine Augen, sage: „Beweg Dich bloß keinen Millimeter zu viel!“ und klappe die Rampe wieder rein. Das Abbiegen von der Karl-Marx-Straße in die Erkstraße ist der Knackpunkt auf der Linie. Vor dem Dönerladen auf der Ecke wird gern im Halteverbot geparkt. Heute auch. Ich brauch aber mit meinem Bus den Platz, oder ein Samariter im Gegenverkehr muss mein Dilemma erkennen und mich durchlassen. Da finde erst mal einen im Feierabendverkehr! Ich muss warten, blockiere die Kreuzung erstmal. Währenddessen sind wohl der Frau mit dem Kinderwagen meine Worte durch den Kopf gegangen. „Was sollten der Spruch eben?“ Orr nö, jetzt will die auch noch reden. Ich muss hier echt aufpassen! Es schlängeln sich Fußgänger und Radfahrer vor und hinter meinem Bus durch. Ich frage sie trotzdem, warum sie keinen Platz macht, sie hat ja beobachtet, wie viel Mühe der Rollifahrer hatte, und wünsche mir Rücksichtnahme von ihr. Endlich, ein Bus der Linie 104 lässt mich durch. Auf die Kollegen ist immer Verlaß, Juhu! Frau Kinderwagen ist aber noch nicht fertig: „Auf mich nimmt auch keiner Rücksicht,  außerdem bezahle ich einen Fahrschein!“ sie dampft ab. „Damit kaufste aber nicht den ganzen Bus“, rufe ich zurück und konzentriere mich wieder auf meine Fahrt. Ganz schön was los. Ich fahre einen Slalom um verschiedene Lieferwagen und berechne dabei immer, wie weit der nächste Radfahrer noch weg ist. Mein Trost: bald bin ich am Treptower Park, da wirds meist ruhiger. minus6 zeigt meine allwissende Box an. Ääätsch, chronische Disharmonie zwischen Erwartung und Realität: An der Treptower Haltestelle steht ein 166er mit Warnblinker. Das ist mein Vordermann. Seine Schützlinge sind schon ausgestiegen, warten also seit 26 Minuten auf mich. Das wird jetzt bis Schöneweide jede Haltestelle so sein. Wird wohl nix mit ‚ruhiger‘. Kurze Frage an den Kollegen, brauchste Hilfe? „Neenee, verliert Kühlwasser.“ Im Innenspiegel sehe ich nur noch Köpfe, schicke eine 100 Prozent – Meldung an die Leitstelle. Theoretisch dürfte ich dann an der nächsten Haltestelle trotz Mitfahrwilliger durchfahren. Natürlich mache ich das nicht, bin ja auf den Folgehaltestellen seit 40 Minuten der erste Bus hier. Hinter mir sitzt eine Frau und ihr Nachwuchs klopft mit Vehemenz seine Füße gegen die Plastikabtrennung zwischen meinem Sitz und Fahrgastraum. Drei Haltestellen reichen, dann bestimme ich, dass das jetzt aufhört. Nach einer Bitte ist mir grad nicht, denn Bitten kann man ablehnen. Auf der mehrspurigen Köpenicker Landstraße fährt links neben mir ein Taxi. Der hat’s aber eilig. Ich nehme lieber meinen Fuß vom Gaspedal. Bingo, nächste Vorhersehung: vor mir biegt er aus der linken Spur nach rechts in den Dammweg ab. Das ist ein gängiges Manöver von Berliner Taxifahrern. Dass auf dem Radweg niemand fuhr, hat der bestimmt gewusst, schließlich ist das wie ich ein geprüfter Berufskraftfahrer. Die Profis auf der Straße, die Champions League! Die letzten Haltestellen vor Schöneweide fahre ich zusammen mit meinem Hintermann. Der hatte natürlich nicht so viel zu tun, ich hab ja außer meinen Kandidaten auch die von vor 20 Minuten eingesammelt. Was sagt meine Box? minus21. Eigentlich müsste ich jetzt also schon wieder direkt rumfahren, dann wäre ich nur ein Minütchen zu spät. Aber die nächste Runde wird ohne Vordermann genauso turbulent. Und ich muss echt aufs Klo. Abfahrt auf der nächsten Runde nach Abstecher zum Lokus mit minus3. …Das Lesen noch nicht abgebrochen? Respekt! Du wolltest wirklich verstehen, was es mit dem Mysterium Verspätung auf sich hat. Das soll genügen und zum Schluss kann ich Dich nur wissen lassen, dass wir von Schöneweide nicht die wildesten Buslinien Berlins fahren.