
Diese Geschichte handelt in einer Zeit, als noch vorne eingestiegen und der Fahrschein vorgezeigt oder gekauft werden musste. Viele Passagiere haben dabei freiwillig oder unfreiwillig etwas von sich preis gegeben: Es ist viel zu früh, meine Laune ist mies, ich pubertiere, ich möchte ein Witzbold sein, ich würde alles andere lieber tun als busfahren, eigentlich fahre ich nämlich Auto, ich bin cooler als Du und so weiter. Der größte Teil allerdings geht emotions- und wortlos an einem vorüber. Und einige müssen übertreiben.Ich habe Spätschicht auf dem 256er. Das macht mich nicht gerade froh, denn Hohenschönhausen ist nicht meine Ecke. Ich sah dort schon so viele Schlägereien, das es für ein Busfahrerleben locker ausreichen würde. Naja, da musse jetz durch! Meine Laune hebt sich, weil ich Franky ablöse. Den kann ich gut leiden. „Tinchen, arbeitest Du auch noch hier?“ – „jo, mit nachlassender Entschlossenheit, mal sehen was die Nacht bringt!“ Bus ist gesund, Räder drehen sich, Lenkrad auch. Er wünscht mir ’nen ruhigen und startet in seinen wohlverdienten Feierabend. Die ersten zwei Runden keine Ereignisse. Aber es ist Samstag Abend, da kann die Überraschung an jeder Haltestelle lauern. Am Prerower Platz steigt ein aufgehübschtes Mädel ein. Jungejunge, die könnte bei Douglas als Geruch arbeiten. Um einen Fahrschein zu zeigen ist sie zu schön, die Durchmesser ihrer Ohrringe unterstreichen das. Ausserdem wird gerade ein Becher Ayran aufgerissen. Warum nicht draußen oder hinten im Bus? Ich lasse mich ja gern verscheißern, aber ein bisschen Mühe kann sich schon geben. Etwas hat sie dann doch noch für mich: einen stummen, sehr abschätzigen Blick, bevor sie nach hinten geht. Allgemeine Beförderungsbedingungen: „der Verzehr von offenen Speisen und Getränken…“ Nein, den Sermon spare ich mir natürlich. Mäuschen, ich habe viel perfidere Pläne, setz Dich nur!Ob einer isst, trinkt oder mir den Lappen zeigt ist mir nicht wirklich wichtig. Letztere fliegen bei einer Kontrolle sowieso irgendwann auf. Und die Zeit zwischen den Haltestellen ist auch eher darauf ausgelegt, dass man seinem Kerngeschäft nachgeht: Fahren. Und nicht Polizei spielen. Freundlich oder zumindest gleichgültig zur Kenntnis nehmen, dass man mir heute kurz sein Leben anvertraut, das darf aber schon sein. Gleich zwei Grenzen übertreten und sich dann noch aufspielen, da kennt der Busfahrer subtile Maßnahmen.Seit Wochen fahren wir eine Umleitung über Suermondtstraße und deswegen weiß ich exakt, wo dort eine Bodenwelle ist. Ich trete das Gaspedal runter. Noch weiter. Ich stelle die Sitzfederung auf extrem weich, ich will ja schließlich auch was davon haben. Über die Bordkamera sehe ich, wie Madamm gerade zum nächsten Ayranschluck ansetzt. Da kommt die Delle! Mein Sitz sinkt ein, als würde ich mich auf einem Gymnastikball setzen, nur um mich direkt danach in die Höhe zu werfen. Für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl zu fliegen und im Spiegel sehe ich, dass mein Plan aufging. Der Abend ist gelaufen für die Geringschätzige. An der nächsten Haltestelle steigt sie aus, ohne ein Wort zu sagen, und ich muss mich nach links wegdrehen, damit sie meine festgetackerten Mundwinkel nicht sieht.