Was sich so in Berliner Bussen abspielt. Und in einer Busfahrerin.

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Unvergesslich vergesslich

Wendenschloss, März 2021

Heute hab ich Schienenersatzverkehr (SEV) für die Straßenbahn. Und heute ist auch der erste Tag, an dem dieser SEV läuft. Das wird spannend. Obwohl solche geplanten Maßnahmen rechtzeitig eingerichtet werden, damit wir mit unseren Bussen überall da durch kommen und halten können, wo sonst Leute ihre Autos parken – Obwohl unsere Verkehrsmeister Tage und Stunden vorher regelmäßig überprüfen, ob auch alles frei ist: Es gibt immer Leute, die Schilder übersehen oder ignorieren, weil: „ich parke ja immer hier“.

Um 4.12 Uhr rolle ich mit meinem Gelenkbus vom Hof in Richtung Wendenschloss und bin schon gespannt, wo man so überall mit einem 18 Meter langen Bus durchkommt. Es werden Falschparker da sein, da bin ich mir sicher. Dazu regnet es in Strömen, das macht die Sache für mich noch interessanter, denn dann ist die Sicht noch schlechter. In ein paar Tagen wird sich dort alles eingegroovt haben und die Strecke frei sein, aber nicht heute, am ersten Tag.

Bis zur Haltestelle, an der meine Strecke beginnt, komme ich noch ohne Probleme. Hier wartet auch schon eine Menschentraube auf mich, die sonst mit der Straßenbahn fährt. „Moin!“ – Hey, das kann ja auch noch wer beim einsteigen sagen, ich freu mich. Ein paar Haltestellen folge ich nur den Gleisen, das ist einfach. Dann kommt die Baustelle und ich muss ins Wohngebiet abbiegen. Noch ein kurzer Blick auf die Linienskizze, wo gehts denn lang? Blinker rechts. Die ersten beiden Blöcke kann ich trotz ein paar Autos noch umfahren. Dann wirds kritisch. Die nächste Straße, in die ich abbiegen muss ist frei, aber ganz vorn auf der Ecke steht doch einer. Ausgerechnet, den Platz brauche ich. In meinem Bus nur Leute, die zur Arbeit wollen. Oh man, die kann ich jetzt nicht im Stich lassen. Mit einmal vor – und zurück rangieren müsste das machbar sein, hier rum zu kommen. Weil es so dunkel ist, frage ich in meinen Bus hinein, ob mich jemand einweisen kann. Ein freundlicher junger Mann macht das für mich, astrein.

Gelenkbusse vorwärts fahren ist meine Spezialität, das mache ich täglich. Rückwärts ist etwas kniffliger, fehlende Übung und da macht der Hänger auch nicht so treue Bewegungen. Puh, ich bin nervös, aber es klappt. Zwei mal rangieren und ich komme um die Ecke, juhu! Weiter geht’s. Jetzt erst funke ich die Leitstelle an und berichte: Straße, Hausnummer, und dass wir da nicht mit dem „Schlenki“ rumkommen. Die verwunderte Nachfrage des Disponenten ist berechtigt: wie ich denn dann schon weiter auf der Strecke gefahren sein kann? Das sieht er nämlich auf seinem Bildschirm. Ich erzähle von meiner Hilfsperson und erst da fällt mir ein, dass ich den lieben Mann gar nicht wieder reingelassen habe. Oh Tine, was hast Du nur getan? Der steht jetzt im Regen, kommt zu spät zur Arbeit und wird bestimmt nie wieder einem Busfahrer helfen!

Mehrere Jahre ist diese Geschichte nun her und ich möchte mich immernoch so gern bei dem Typen entschuldigen.

Türsteher

Berlin-Marzahn

Spätdienste sind toll, da kann man ausschlafen. Und das ist nach der Liebe bekanntlich das zweitwichtigste im Leben. Wenn man erst um drei Uhr früh ins Bett gehen kann und neben einem Kindergarten wohnt, wird das mit dem Ausschlafen aber meistens nichts. Halb neun gehts auf den Spielplatz im Innenhof. Außer es regnet. Und selbst dann kann noch jemand im Geschoss unter Dir auf die Idee kommen, seine neue Schlagbohrmaschine auszutesten. Gähn.

Mein Spätdienst macht seinem Namen alle Ehre. Statt um 17.38 Uhr löse ich erst um 17.52 Uhr ab. Der Kollege erzählt mir irgendwelche Gründe, aber die lösche ich gleich wieder. Berlin um diese Uhrzeit, darüber verlieren nur Anfänger ein Wort. Es nieselt. Der Radler vor mir trägt einen Helm mit so kleinen Spiegelchen dran und sieht aus wie ein lustiges Insekt. Da muss ich mich echt drüber amüsieren. An der nächsten Haltestelle ist mein Grinsen wohl noch nicht richtig abgeklungen, denn ich werde angeblafft: „was’n da so lustig, wegen ihnen warte ich hier seit Eeeewigkeiten im Regen!“ Moment, was will’n die? Ich hab doch vor drei Minuten erst angefangen. Egal, bei der habe ich eh verkackt, also schraube ich mit an ihrem Beleidigtkeitsgrad: „issja keen Problem, haick doch jerne jemacht!“

Die ersten zwei Runden drehe ich an den Endstellen gleich um und bin um 19.55 Uhr wieder pünktlich. Ich freue mich auf einen ruhigen Abend, denn ‚Krieg‘ ist auf den meisten Linien abends nur Freitag und Sonnabend, aber wir haben Donnerstag. Die meisten müssen am nächsten Morgen früh raus und ab 20 Uhr fährt man nur noch die Straßen hoch und runter. Da kann ich an den Endstellen mein neues Buch anfangen.

Leider fällt mir seit Marzahn einer auf, der sich jede Haltestelle in die Lichtschranke stellt. Vier mal habe ich schon über mein Mikro durchgesagt: „Bitte Türen freimachen“, was sonst nur im Berufsverkehr nötig ist – wenn der Bus wirklich voll besetzt ist. Stänkerfritze, so geht das nicht weiter. Ich gebe seinem Gesuch nach einem Gespräch nach und gehe außen zur letzten Tür.

Ich frage ihn auf doof, wann wir weiter fahren. Er antwortet: „Weeß ik nich, IK hab Zeit. Musste ma richtich fahrn lernen!“ Aha. Ich stelle klar, dass ich erst recht Zeit habe, ich bin nämlich schon auf der Arbeit, und mein Dienst geht bis 1.15 Uhr morgen früh. Von mir aus können wir bis da hin hier stehen bleiben. Nun zieht er sein gefühltes Ass aus dem Ärmel: „Ik hab ’ne Monatskarte.“ Aha zum zweiten. „Ein großes Hurra auf Dich! Mit dem Kauf stimmste den Beförderungsbedingungen zu. Da steht, dass Leute von der Beförderung ausgeschlossen werden, die den Betriebsablauf stören“ – ich male Gänsefüßchen in die Luft – „und genau das machste hier“.

„Na versuch doch, mich raus zu schmeißen, Määäädchen!“ Naaah, wegen solchen Eumeln drängt sich mir doch manchmal die Notwendigkeit des Feminismus auf, mit dem ich eigentlich wenig zutun zu haben glaube. Was für ein brilliantes Geistesleben muss man haben um zu denken, man hätte das Recht, mich hier vorzuführen? Den Gefallen, ihn anzufassen tue ich ihm nicht. „Nööö, dafür gibts den einseinsnull – Begleitservice, und bis die hier sind, warten wir. Ik krieg das als Einzige auch noch bezahlt“ grinse ich. Gut dass keiner weiß, wie ich hier blöffe. Bei den Einseinsnullern hat nämlich popeliger Kleinkrieg in den Öffis allerletzte Priorität.

Aber langsam wirds unruhig in meinem Bus. Zwei Malergesellen sind aufgestanden, die werden mit dem so schnell fertig, wie Neo mit den Bösewichten in der Matrix. Keiner weiß genau wie, aber alles im Galopp. Keine 60 Sekunden später sitze ich wieder auf meinem Stuhl, bedanke mich bei den Jungs und die Türen sind zu, Weiterfahrt ohne den Türkobold. Am S – Bahnhof Louis-Lewin Straße quatscht mich Thorsten durchs Fenster an: Nächste Haltestelle steht einer, den er rausgeschmissenen hat. Soll den nich mitnehmen, Stresser. Sind die denn heute alle auf dem 95er verabredet? Wenn Thorsten, die Frohnatur das sagt, ist der Typ wirklich von der unbequemen Sorte. Ein Glück will dort niemand aussteigen. Ich sehe den Störenfried, aber mein Fuß bewegt sich nicht mal zur Bremse. Dafür seine Faust in die Luft. Auf der Runde zurück hockt der immernoch im Häuschen, der hat aber Ausdauer. Ich sage meinem Hintermann das gleiche wie Thorsten mir eben. Der Typ wird heute Nacht wohl Wandertag haben. Das liebe ich am Spätdienst, alle Kollegen kennen sich und wer uns doof kommt, kann abtreten. Solche Querulanten beschweren sich im Nachhinein nie, denn man kann sich eben auch nur ordentlich daneben benehmen wenn man genau weiß, DASS man es tut.

Zurück in Marzahn, jetzt habe ich aber Kloschüsseldrang. Ab jetzt gibt’s 20 Minuten Wende und so kann ich noch eine rauchen und mit meinen Kollegen den bisherigen Abend auswerten. Meiner war anscheinend bisher der spannendste. Der Bordrechner piept. Abfahrt. Aber der Anlasser macht keinen Mucks. Komisch, bisher war die Hütte doch gut. Ich gucke, ob der Gang raus ist, mache beim dritten Startversuch alle Verbraucher aus, vor dem vierten gucke ich, ob die Tankklappe und die Motorklappe vielleicht nicht richtig schließen, aber der Bus versucht nicht mal zu orgeln. Also einmal Hauptschalter aus und mindestens noch mal fünf Minuten warten, so ist das eben bei 13 Jahre alten Bussen. Einer der Wartenden ist mutig genug, um von der Haltestelle zu uns in die Wendeschleife zu spazieren: „Was könnt ihr eigentlich bei der BVG, nur Kaffee saufen und labern, so ein Judenverein!“ Ich bin über so einen Ton erstaunt, schließlich würde ich alles andere lieber tun, als hier rumzustehen und über meine Arbeitsmoral zu diskutieren. Außerdem wollte ich doch Buch lesen, das wird drüben in Mahlsdorf jetzt wieder nichts. Bevor ich irgendwas Unvorsichtiges sagen kann, antwortet ihm Franky, der neben mir steht: „na wat fährsten Du ooch mit ’so nem Judenverein‘? Kannsta keene Taxe leisten? Die Bude hier is hin, siehste doch!“ Franky ist zwei Meter groß und murmelt in Stimmlage Bass, das schüchtert den Emporkömmling ausreichend ein. Nach 20 Minuten bekomme ich einen Wechselwagen, eine halbe Runde entfällt und wenigstens die letzten zwei Runden kann ich mich endlich meinem Buch widmen.

Solarium

Blossin, 2019

Alle sind froh, dass wir die Solaris – Busse los sind. Urbino, Polen – Bomber, Dackel, Polenkuh, Trümmerlok, Solarium. Gab viele Namen. Meine Fahrgäste durften einem breiten Register an Flüchen lauschen, dass auch ja keiner denkt, es läge an mir! Nein, diese Röhre voll Schrott …! Trotzdem vermisse ich sie. Sie sahen alle gleich aus, ob Niete oder Glücksgriff findest Du erst heraus, wenn Du druff sitzt. Oder Du hast Dir sämtliche Wagennummern von herausragend schlechten Exemplaren gemerkt. Manche Kollegen konnten das, ich nicht.Die Welt konnte ein seltsamer Ort werden im Inneren so einer Polenkuh: Abfahrt von der Haltestelle? Ohne Kenntnis eines Indianertricks bremst Dich die Karre nach Antäuschung einer Beschleunigung gleich wieder aus. Deine Fahrgäste müssen alle unfreiwillig nicken. Der Autofahrer hinter Dir denkt, Du willst stänkern. Natürlich, immer diese Busfahrer.Die Sensibilität der Tür – Lichtschranke ist auf Mimose geeicht. Ein Schnürsenkel reicht, und die Bretter bleiben gnadenlos offen. Oder die Tür bleibt einfach so offen und Du kannst sie nur komplett sperren, damit sich die Bremsen lösen. Dein Bus senkt sich nach links statt nach rechts ab. Für die schwächeren im Fahrgastrudel nicht so witzig, wie es klingt. Die Heizung wärmt nur dann, wenn Du den Zündschlüssel auf der richtigen Stufe stehen lässt und schnell genug einen bestimmten Knopf drückst, und erst dann den Schlüssel weiter drehst. Um eine Steigung schneller als mit Schrittgeschwindigkeit zu bewältigen, musst Du die Klimaanlage abschalten. Wenn sie denn funktioniert. Der Fahrersitz ist gern mal schief montiert und nach drei Stunden fragst Du Dich, wieso Dir eine Arschbacke so weh tut. Und wenn es das nicht ist, hast Du ein Modell mit stehendem Gaspedal, dessen Winkel so steil ist, dass Du Schienbeinkrämpfe bekommst. Die Scheibenwischer mixen aus einzelnen Regentropfen einen milchigen Teppich, und schon siehst Du gar nichts mehr.Die Fehlermeldungen im Solaris las ich bei keinem anderen Bus jemals wieder: „ECAS MUX Plausibilitätsfehler“ – okay! Die ganzen anderen Fehler waren also plausibel? Zwei Regentropfen oder Nebel, und das Display ist mit noch abenteuerlicheren Meldungen voll, welche komplett ignoriert werden können – es ist halt nass. Weiß der Kuckuck, wieso Wetter bei der Konstruktion dieser Fahrzeuge nicht einkalkuliert wurde. Da war bestimmt noch mehr, was einen an diesen Bussen zur Weißglut brachte, vermutlich habe ich das anständig verdrängt.Dann gab es auch echte Schmuckstücke. Gas wird beim Abbiegen genau auf Level gehalten und Dein Bus schlängelt sich, ohne dass Du Deinen Fuß bewegen musst. Die Lenkung butterweich, im Grunde bräuchtest Du nur zwei Finger. Die Motorbremse ist so kraftvoll, dass Du auf ruhiger Strecke einen Wettbewerb mit Dir selbst starten kannst: Das Bremspedal ist Lava! Vor allem, als die neuen Busse kamen und nur die handverlesen guten Solaris noch im Einsatz waren, habe ich mich riesig gefreut, wenn zur Ablösung einer um die Ecke kam. Nein, früher war nicht alles besser. Ein bisschen kniffliger und mysteriöser vielleicht.

Im Frühtau

rrrrrring!

2:15 Uhr. Omas Wecker schrillt im Flur, als wäre das jüngste Gericht angebrochen. Dass ich aufstehen muss, um den abzuschalten ist auch nötig. Sonst würde ich Sonntags um diese Zeit mein gemütliches Gebälk niemals verlassen. Noch betrachte ich meine Augenlider von innen, tappe in die Küche und schmeiße die Kaffeemaschine an. Du schwarzes Gold! Würde der Schichtdienst ohne Dich überhaupt exsistieren? Am Fenster schlürfe ich den Treibstoff und rauche die erste Zigarette. Draußen grölen welche, für die noch Samstag Nacht ist. Mit der Sorte wird sich mein Bus nachher auch füllen. Um kurz vor 4.00 Uhr komme ich auf den Betriebshof geradelt. Selbst die Rangierer – Bude, wo unsere Busse ausgegeben werden, ist noch dunkel. Ich komme durch die Tür und rufe: „Tinchen kann nich schlaaafen, wer noo-hoooch?“ Die Bildschirme strahlen einsam vor sich hin, aus dem Hinterzimmer kommt Matze, stellt mir einen Kaffee hin und gibt mir meine Schlüssel. Keine Kollegen zum quatschen da, und Matze verschwindet auch wieder. Werktags ist hier um die Zeit schon Hochbetrieb.

Als erstes habe ich eine Runde Nachtwagen. Einmal vom Alex bis raus zum Flughafen. Bis ich dort ankomme, klappere ich erst mal ein paar Clubs ab, die Nachtschwärmer einsammeln. Auf dieser Tour schalte ich im Fahrgastraum die Heizung aus. Dabei bin ich überhaupt nicht gehässig. Ich möchte nur nicht unten am Flughafen 27 schlummernde Gestalten an Bord haben, die in behaglicher Wärme ihren Glimmer ausschlafen. Das sollen sie mal schön zuhause machen. Das sind Erfahrungen, die man als Busfahrer nur einmal macht und dann sucht man nach Lösungen. Klappt heute auch ganz gut, bis zum Flughafen wollen nur zwei, die wie ich Schicht haben.

Auf dem Rückweg geht’s auf dem Adlergestell bis Schöneweide und ab da schildere ich meinen Bus zu einer Tageslinie um. Kurz vorm S-Bahnhof Schöneweide schwenke ich vorsorglich auf die Mittelspur. Denn dort am Straßenrand ist der „Eisenbahner“. Das ist eine Kneipe, in die ich nicht mal mit gezogenem Colt reingehen würde. Gerade wird sich wieder zünftig abgewaschen. Wo die Fahrbahn beginnt, ist dann nebensächlich. Einen großen Bogen um die Meute und weiter gehts Richtung Innenstadt. So ruhig wie Sonntag morgens um sechs Uhr ist es hier sonst nie. Die Erinnerung, dass ich mich nicht in einer heilen Welt befinde, sehe ich an der Falckensteinstraße: ein halbnackter Typ sucht auf allen vieren wie verrückt den Bürgersteig ab. Vermutlich aber nicht nach seinem Schlüpper, sondern nach Crackkrümeln, die er am Ende doch wieder nur beim Dealer bekommt.

In meiner Pause lerne ich einen neuen Kollegen kennen. Den habe ich schon ein paar mal flüchtig gesehen und er scheint ein lässiger Typ zu sein. Weil ich ihn mit anderen Kollegen spanisch sprechen hörte, taufte ich ihn „Miguel Sanchez“. Ich frage nach seinem richtigen Namen. Er sei Chilene, sein Vater wäre Deutscher und darum hieße er „Günther“. Mein Gesicht verformt sich zu einer Mischung aus Erstaunen und Schmunzeln. Er sagt, er glaubt nicht, dass er wie ‚Günther‘ aussieht. Keine Ahnung, wie er das meint, aber ich finde, für einen Günther ist er mindestens 20 Jahre zu jung. Günthers tragen Goldkettchen, karierte Kurzarmhemden und rauchen Pfeife. Zumindest meinen Vorurteilen entsprechend.

Bei der Ablösung zum zweiten Teil verdrehe ich meine Augen. Dieser Kollege hingegen ist so eine richtige Schreckschraube. Alles ist schonmal grundsätzlich scheiße und falsch bei dem. Selbst wenn er aus dem Urlaub zurückkommt, war da alles Mist. Unter Katastrophe macht er es nicht. Bei solchen Menschen frage ich mich immer, weshalb sie morgens überhaupt aufstehen. Er öffnet alle Türen und schnauzt die vorn einsteigenden Fahrgäste an: „Wir lösen hier ab, sehn’se das nicht!?“ Ich verklickere ihm, dass das jetzt meine Leute sind, und er die nicht gegen mich aufbringen soll. Das kann er gerne mit seinen Fahrgästen machen, wenn ihm so eine Stimmung im Bus gut tut. Ich hab hier lieber Freunde. Wenigstens hat er sich schonmal vom Sitz hoch geastet. Beim Aussteigen tottert er weiter, dass „ja hier alle machen, was sie wollen!“ Ja, natürlich. „Die Leute steigen in den Bus ein, was für ein Verbrechen“, antworte ich und hoffe, dass er die Ironie versteht. Bevor er noch irgendwelche Schlechtigkeiten loswerden kann, lasse ich die Türen klappern und rolle los. Noch anderthalb Runden bis zum Feierabend, dann gönne ich mir einen Mittagsschlaf. Die nächsten drei Tage habe ich frei und ich werde jede Sekunde genießen, in der ich zu absolut überhaupt nichts nütze bin.

Ayranfontäne

Diese Geschichte handelt in einer Zeit, als noch vorne eingestiegen und der Fahrschein vorgezeigt oder gekauft werden musste. Viele Passagiere haben dabei freiwillig oder unfreiwillig etwas von sich preis gegeben: Es ist viel zu früh, meine Laune ist mies, ich pubertiere, ich möchte ein Witzbold sein, ich würde alles andere lieber tun als busfahren, eigentlich fahre ich nämlich Auto, ich bin cooler als Du und so weiter. Der größte Teil allerdings geht emotions- und wortlos an einem vorüber. Und einige müssen übertreiben.Ich habe Spätschicht auf dem 256er. Das macht mich nicht gerade froh, denn Hohenschönhausen ist nicht meine Ecke. Ich sah dort schon so viele Schlägereien, das es für ein Busfahrerleben locker ausreichen würde. Naja, da musse jetz durch! Meine Laune hebt sich, weil ich Franky ablöse. Den kann ich gut leiden. „Tinchen, arbeitest Du auch noch hier?“ – „jo, mit nachlassender Entschlossenheit, mal sehen was die Nacht bringt!“ Bus ist gesund, Räder drehen sich, Lenkrad auch. Er wünscht mir ’nen ruhigen und startet in seinen wohlverdienten Feierabend. Die ersten zwei Runden keine Ereignisse. Aber es ist Samstag Abend, da kann die Überraschung an jeder Haltestelle lauern. Am Prerower Platz steigt ein aufgehübschtes Mädel ein. Jungejunge, die könnte bei Douglas als Geruch arbeiten. Um einen Fahrschein zu zeigen ist sie zu schön, die Durchmesser ihrer Ohrringe unterstreichen das. Ausserdem wird gerade ein Becher Ayran aufgerissen. Warum nicht draußen oder hinten im Bus? Ich lasse mich ja gern verscheißern, aber ein bisschen Mühe kann sich schon geben. Etwas hat sie dann doch noch für mich: einen stummen, sehr abschätzigen Blick, bevor sie nach hinten geht. Allgemeine Beförderungsbedingungen: „der Verzehr von offenen Speisen und Getränken…“ Nein, den Sermon spare ich mir natürlich. Mäuschen, ich habe viel perfidere Pläne, setz Dich nur!Ob einer isst, trinkt oder mir den Lappen zeigt ist mir nicht wirklich wichtig. Letztere fliegen bei einer Kontrolle sowieso irgendwann auf. Und die Zeit zwischen den Haltestellen ist auch eher darauf ausgelegt, dass man seinem Kerngeschäft nachgeht: Fahren. Und nicht Polizei spielen. Freundlich oder zumindest gleichgültig zur Kenntnis nehmen, dass man mir heute kurz sein Leben anvertraut, das darf aber schon sein. Gleich zwei Grenzen übertreten und sich dann noch aufspielen, da kennt der Busfahrer subtile Maßnahmen.Seit Wochen fahren wir eine Umleitung über Suermondtstraße und deswegen weiß ich exakt, wo dort eine Bodenwelle ist. Ich trete das Gaspedal runter. Noch weiter. Ich stelle die Sitzfederung auf extrem weich, ich will ja schließlich auch was davon haben. Über die Bordkamera sehe ich, wie Madamm gerade zum nächsten Ayranschluck ansetzt. Da kommt die Delle! Mein Sitz sinkt ein, als würde ich mich auf einem Gymnastikball setzen, nur um mich direkt danach in die Höhe zu werfen. Für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl zu fliegen und im Spiegel sehe ich, dass mein Plan aufging. Der Abend ist gelaufen für die Geringschätzige. An der nächsten Haltestelle steigt sie aus, ohne ein Wort zu sagen, und ich muss mich nach links wegdrehen, damit sie meine festgetackerten Mundwinkel nicht sieht.

Machet jut, altet Jemäuer!

Pausenheim Schöneweide, 2021

Unser Pausenheim Schöneweide wird bald abgerissen.
Gefühlt verbrachte ich hier mehr Zeit als in meiner eigenen Bude.

Welches Theater man auf Strecke auch hatte – im Pausenheim SSW immer astreine Stimmung! Auch die Bimmel und Hof Britz gingen hier ein und aus, aber Stimmung kam immer von uns Schöneweidern.

Unvergessen auch das längst geschlossene Johannisthaler Stübel direkt nebenan. Morgens um 6 Uhr Bocki und Käffchen. Mit Feierabendbier wurde man – na logen – auch versorgt. Wie habe ich mich schon vor dem Dienst auf die Beleidigungen in der Blockpause gefreut, ein Wort gibt das andere und am Ende halten sich alle die Bäuche vor Lachen. Ich „feierte“ hier Weihnachten und Silvester.

Nicht zuletzt warf ich hier meinem Herzbewohner erste funkelnde Blicke zu, inklusive der unvermeidlichen heimlichen Knutscherei auf’m Klo.
Viele Kollegen von damals sind schon in Rente oder ganz von uns gegangen.

Nun muss also auch das Pausenheim der neuen Bimmel – Wegführung weichen. Ich hoffe, dass wir uns zumindest die Stimmung in unseren glorreichen Plastik – Containern erhalten.

Gluckerwinkel

Berlin-Kreuzberg, Schlesisches Tor

Der M11 ist eine Linie, die ich mag. Wenn ich dann allerdings mal ’ne Runde „Emmer“ hab, bekomme ich Drakestraße die Schülermeute ab. Natürrrlemont! Alle rinn in die Höhle, bin ja der einzje Bus uff der Ritze hier! Bis alle drin und sogar die Türen zu sind, hat mich mein Hintermann überholt. Der fährt warme Luft spazieren und hockt bestimmt an der Endstelle Dahlem auf dem Lokus, auf den ich so dringend muss.

Als Kompott gibt’s die „Hipsterschaukel“, den 165er von Köpenick nach Kreuzberg. Die Kollegin, die ich ablöse, gewinnt gerade einen Schweigemarathon und sie denkt wohl auch, sie arbeitet bei Lufthansa. In beiden Außenspiegeln sehe ich nur Himmel. Dauert ein paar Minuten, bis ich das wieder so hingebogen hab, dass ich was sehe. Unfälle habe ich mir nämlich abgewöhnt, zuviel Papierkram.

Am Schlesi will ich gerade abfahren, da kommt mir eine Alte, die geschmückt ist wie der Weihnachtsbaum der Apatschen, auf der Fahrbahn entgegen gelaufen. Na, Du bist mir ja schon mal sympathisch, denke ich. ‚Nimm mich mit, oder überfahr mich‘ – das sind meine allerbesten Freunde. Ob einer meinen Bus überholt und ich dann zusehen darf, wie der die wegplatscht, ist ja so nebensächlich wie das eigene Leben. Hauptsache Bus kriegen, ob tot oder lebendig!
Sie: „Sind die der Bus zum Schlesischen Tor?“
Ich verkneife mir mein obligatorisches ‚ich bin die Busfahrerin‘ und antworte stattdessen: „wir SIND am Schlesischen Tor.“
Sie: „nein, nein, da muss ein Bus hin fahren, zum U-Bahnhof!“
Nagut, mir Sachen abkaufen ist nicht so ihr Ding, also zeige ich auf die gerade oben fahrende Bahn.
Sie: „Aaach, die fährt gar nicht unten? U steht doch für Untergrund!“
Ich: „U steht für unabhängig vom Straßenverkehr. „
Und plötzlich werd ich trotz der Minuten, die mich das Gespräch wieder kostet, ein bisschen stolz. Diesen einen von drei Fakten, die ich mir während der Ausbildung gemerkt habe, konnte ich weitergeben! Wenn dit nix is! Interesse bei ihr jedoch mäßig, weg ist sie.

Ab Treptow wird’s wie immer ruhiger und als ich das letzte mal aus Köpenick abfahre, winkt am Horizont schon mein Feierabend am S-Bahnhof Schöneweide. Aber ich hab meine Rechnung ohne Rolli – Jochen gemacht. Der hat heut wieder Freigang und sitzt mit seinem Kumpel Rollator – Uwe in Oberspree an der Haltestelle. Na toll, die wollen Hartsprit holen in Schöneweide. Immer wenn ich des Weges komme! Warum? Uwe ist noch halbwegs bei Trost, bei dem versuche ich die rigide Herrscherin zu spielen: „ey, Du nimmst den hier in Schöneweide wieder mit raus! Du hast den mitgeschleppt, und der pennt hier NICH ein und fährt bis Endstation, klar?“ Uwe schiebt seinen Rollator an mir vorbei als wäre ich Luft. Na dem hab ichs aber gegeben! Jochen kommt eigentlich mit seinem Rolli gut klar, hat aber schon ordentlich einen in der Lampe und ausserdem regnete es die Runde davor, da drehen seine Räder auf der Rampe durch. Ich muss ihm also doch einen Schubs geben, Mist. Das wollte ich eigentlich vermeiden, denn der stinkt wie angefaulter Büffelpansen. Noch eh ich die Griffe seines Rollstuhls erreiche, kippt er nach hinten und ich versuche,  die 100 kg bieratmenden Typ mitsamt Rollstuhl aufzufangen. Außer dem Inhalt aus seinem ‚Turmbräu‘- Bembel auf meiner gesamten Uniform ist das ganze glimpflich ausgegangen.

In Schöneweide scheiße ich die Beiden noch mal ordentlich zusammen,  dass sie sich das nächste Mal einen anderen Bus aussuchen sollen und radle nachhause. Jetzt ist erstmal Wäsche waschen und duschen angesagt.

Scone – Weed

Schöneweide

Gestern war Fußballtraining, deswegen bin ich heut ganz schön platt. An der Haltestelle Pusch/Else weckt mich unsanft ein Fußtrampeln aus meiner Lethargie. Ein kahlrasierter Bierbauchträger brüllt mich an: „D’YA GO TO SCONE-WEED?“ Uff. Mein Kopf muss kurz ackern. Ich rate: „Schöneweide?“ Darauf brüllt er ein zweites Mal: „YEAH, SCONE-WEED!“ Er lässt sein Bein in der Tür stehen und winkt in eine Richtung,  in der ich niemanden sehe. Da kommen wohl noch ein paar Kumpane. Ich überlege kurz, aufzustehen und mein Bein auf die andere Seite der Tür zu stellen. Aus Solidarität und um den Schreihals ein bisschen aus dem Konzept zu bringen. Aber dann sehe ich seine Truppe. Nee, die wären einer körperlichen Konfrontation wohl eher nicht abgeneigt, da bleibe ich lieber in meinem Kabüffchen. Der Bus füllt sich mit Biergeruch und very drunk english. Lärmpegel: der Typ mal 25. Na, das kann ja was werden bis Scone-Weed. Warum nehmen die nicht einfach am Treptower Park die S-Bahn und lassen mich mit meinem Muskelkater dahinsiechen?

Die Antwort bekomme ich am Dammweg. Da steigt eine weitere Traube schwarzer Unterhemden ein. Manche bedecken nur die halbe Wampe und ihre Gesichter sind genauso rot wie die meiner Insassen, sprechen aber Deutsch. Und so lerne ich ein neues Lied: „BUUUUSFAHRER FAHR UNS IN DEN TOOOD!“  mehr Text gibts nicht, wird nur in unterschiedlichen Melodien vorgetragen. Takt wird mit der Faust an der Seitenscheibe gegeben. Hoffentlich hält die. Baumschulenstraße fällt einem ein, worauf ich schon seit Beginn des Liedes warte: „Wir ham ja ’ne BusfahrerIN!“ Endlich erinnert mich mal wieder jemand daran, dass ich nicht im stehen pissen kann. Apropos: Zur Unterstreichung dieses entscheidenden Unterschiedes reichen den Herrschaften Worte allein nicht. Versammlung im Gelenk meines Busses, Lurch rausgekramt, erstmal ’ne Stange Bier abflöten. Ein paar Mädels setzen sich zu mir nach vorne. Ob die glauben, ich könnte sie beschützen? Ich glaube das nicht, ich könnte mit meinen müden Beinen nicht mal wegrennen. Nur den kleinen roten Notfallkopf drücken, den ich noch nie benutzt habe. Dafür ist es mir aber noch zu früh, wenn ich jetzt die Bullen rufe und stehen bleibe, eskaliert das hier auf jeden Fall. Aber ich taste schonmal, um im Ernstfall zu wissen, wo genau der Knopf ist. In Schöneweide steigt die Meute aus, dort warten noch mehr schwere Jungs.

Komisch. Fußballspiele sind heut nicht, nicht mal irgendein Testspiel, aber was mit Fußball haben die am Hut, so viel habe ich von ihrem breitgematschten Englisch dann doch verstanden. Vielleicht eine illegale Klopperei mit Schöneweider Kulisse? Solche Hobbies solls ja geben. Im Inneren meines Busses ist es nun mucksmäuschenstill und doch meine ich, bei meinem verbliebenen Fahrgästen einen heimlichen Seufzer zu hören, als die Türen sich schließen. Ich jedenfalls bin froh, dass die jetzt woanders weiter brüllen und bestelle mir bei der Leitstelle einen trockenen Wechselwagen.

Zuspätkommer

Berlin- Schöneweide, Sommer 2022

Schonmal einen Busfahrer wegen der Verspätung angesprochen? Sollte er nicht erst seit letzten Donnerstag diesen Beruf ausüben, wird er wohl resigniert geschwiegen haben oder er bot Dir an, eine ganze Runde mitzufahren und die Kaskade an Ereignissen auf Dich wirken zu lassen. Ob jemand in Berlin diese Einladung schon mal angenommen hat? Diese Unternehmung könnt ihr euch sparen und hier gemütlich lesen. Obwohl es Linien gibt, die Potential für einen Fünf-Akter hätten, wähle ich den 166er. Strecke: S-Bahnhof Schöneweide bis U-Bahnhof Boddinstraße. Intervall: alle 20 Minuten.Fahrzeit: 43 Minuten.Wendezeit Boddin: 7 Minuten.  Wendezeit Schöneweide: 20 Minuten. Diese 20 Minuten stehe ich jetzt schon in Schöneweide und warte auf meinen Dienstbeginn. Von meinem Bus keine Spur, die Stellfläche für meine Linie bleibt leer. Bis eben konnte ich noch gemütlich mit meinen Kollegen quatschen. Langsam wird’s kritisch. Nach der Abfahrtzeit losfahren ist nie entspannt. Das Fahrgastknäul blickt von der Haltestelle in unsere Richtung, als wüßten wir mehr. Ja wann kommter denn, der Bus? 7 Minuten nach planmäßiger Abfahrt: ein gelber Streif am Horizont! Bedeutet: er hat 27 Minuten Verspätung. Hinter ihm fährt schon der nächste 166er, der hat „nur“ 7 Minuten Verspätung. Motor meines Busses wird gleich laufen gelassen, Kollege ist erfahren genug um mich mit den Einzelheiten seiner Odyssee zu verschonen. Ablösesteno, schön‘ Feierabend. Abfahrt. Mein Display zeigt minus8. Bis Treptow ringe ich die böse Verspätung auf minus4 nieder. Dann habe ich oben Boddin noch 3 Minuten, das reicht für Klo. In der Elsenstraße klebe ich hinter einem Radfahrer fest. Sveni kommt mir entgegen, vor dem strampelt auch einer. Statt Gruß schwingt er eine unsichtbare Peitsche, als wäre der Radler Svenis Zugpferd. Ach, ich grinse. Das ist cool, wenn man solche Kollegen hat, so macht arbeiten Spaß. Nächste Haltestelle: Rollstuhl. Drei Kinderwagen auch. Stopp danach: Matratze. Zählt wohl als Handgepäck. Ab Sonnenallee schiebt sich der Verkehr nur noch. Naja, so nötig muss ich nicht. Rollstuhl wieder raus. Boddinstraße wird mit minus9 gewendet, die 7 Minuten Wendezeit bekomme ich als „Gutschrift“. Mit minus2 stehe ich an der Abfahrthaltestelle. Gar nicht mal so schlecht. Abbiegen auf die Hermannstraße. Rechts neben mir parken Autos und ich habe an der nächsten Ampel rot. Was sehen meine Augen im rechten Spiegel? Versucht die da gerade wirklich, zwischen den Autos und meinem Bus mit ihrem Fahrrad durchzukommen? Das geht doch schief! Mehr kann ich nicht denken, da öffnet sich die Tür eines Wagens. Rumms. Fahrrad gegen Autotür. Einatmen, Ausatmen. Pech für die beiden, Glück für mich. Dann bin wenigstens nicht ich der Unfallgegner. Weiter gehts. Die Werbellinstraße hinab fährt die nächste Radlerin vor mir auf dem Schutzstreifen. Für bergab ist die ganz schön langsam, was hat die vor? Lieber abwarten. Richtige Entscheidung: Ohne Arm oder wenigstens den Kopf zu bewegen, biegt sie vor mir nach links in die Mainzer Straße. Mäuschen, danke Deinem Schutzengel, dass das hinter Dir eine erfahrene Busfahrerin war. Wird sie nicht, sie hat mich ja noch nicht einmal gesehen. Meine Bremsung war saftig, aber keiner ist im Bus umgefallen, alles gut. Rathaus Neukölln: der Rolli möchte wieder zurück. Auf dem Stellplatz steht eine Frau mit Kinderwagen und beobachtet den Zustieg. Kaum Platz. Auch als er sie streift, rührt sie sich nicht. Ich verdrehe meine Augen, sage: „Beweg Dich bloß keinen Millimeter zu viel!“ und klappe die Rampe wieder rein. Das Abbiegen von der Karl-Marx-Straße in die Erkstraße ist der Knackpunkt auf der Linie. Vor dem Dönerladen auf der Ecke wird gern im Halteverbot geparkt. Heute auch. Ich brauch aber mit meinem Bus den Platz, oder ein Samariter im Gegenverkehr muss mein Dilemma erkennen und mich durchlassen. Da finde erst mal einen im Feierabendverkehr! Ich muss warten, blockiere die Kreuzung erstmal. Währenddessen sind wohl der Frau mit dem Kinderwagen meine Worte durch den Kopf gegangen. „Was sollten der Spruch eben?“ Orr nö, jetzt will die auch noch reden. Ich muss hier echt aufpassen! Es schlängeln sich Fußgänger und Radfahrer vor und hinter meinem Bus durch. Ich frage sie trotzdem, warum sie keinen Platz macht, sie hat ja beobachtet, wie viel Mühe der Rollifahrer hatte, und wünsche mir Rücksichtnahme von ihr. Endlich, ein Bus der Linie 104 lässt mich durch. Auf die Kollegen ist immer Verlaß, Juhu! Frau Kinderwagen ist aber noch nicht fertig: „Auf mich nimmt auch keiner Rücksicht,  außerdem bezahle ich einen Fahrschein!“ sie dampft ab. „Damit kaufste aber nicht den ganzen Bus“, rufe ich zurück und konzentriere mich wieder auf meine Fahrt. Ganz schön was los. Ich fahre einen Slalom um verschiedene Lieferwagen und berechne dabei immer, wie weit der nächste Radfahrer noch weg ist. Mein Trost: bald bin ich am Treptower Park, da wirds meist ruhiger. minus6 zeigt meine allwissende Box an. Ääätsch, chronische Disharmonie zwischen Erwartung und Realität: An der Treptower Haltestelle steht ein 166er mit Warnblinker. Das ist mein Vordermann. Seine Schützlinge sind schon ausgestiegen, warten also seit 26 Minuten auf mich. Das wird jetzt bis Schöneweide jede Haltestelle so sein. Wird wohl nix mit ‚ruhiger‘. Kurze Frage an den Kollegen, brauchste Hilfe? „Neenee, verliert Kühlwasser.“ Im Innenspiegel sehe ich nur noch Köpfe, schicke eine 100 Prozent – Meldung an die Leitstelle. Theoretisch dürfte ich dann an der nächsten Haltestelle trotz Mitfahrwilliger durchfahren. Natürlich mache ich das nicht, bin ja auf den Folgehaltestellen seit 40 Minuten der erste Bus hier. Hinter mir sitzt eine Frau und ihr Nachwuchs klopft mit Vehemenz seine Füße gegen die Plastikabtrennung zwischen meinem Sitz und Fahrgastraum. Drei Haltestellen reichen, dann bestimme ich, dass das jetzt aufhört. Nach einer Bitte ist mir grad nicht, denn Bitten kann man ablehnen. Auf der mehrspurigen Köpenicker Landstraße fährt links neben mir ein Taxi. Der hat’s aber eilig. Ich nehme lieber meinen Fuß vom Gaspedal. Bingo, nächste Vorhersehung: vor mir biegt er aus der linken Spur nach rechts in den Dammweg ab. Das ist ein gängiges Manöver von Berliner Taxifahrern. Dass auf dem Radweg niemand fuhr, hat der bestimmt gewusst, schließlich ist das wie ich ein geprüfter Berufskraftfahrer. Die Profis auf der Straße, die Champions League! Die letzten Haltestellen vor Schöneweide fahre ich zusammen mit meinem Hintermann. Der hatte natürlich nicht so viel zu tun, ich hab ja außer meinen Kandidaten auch die von vor 20 Minuten eingesammelt. Was sagt meine Box? minus21. Eigentlich müsste ich jetzt also schon wieder direkt rumfahren, dann wäre ich nur ein Minütchen zu spät. Aber die nächste Runde wird ohne Vordermann genauso turbulent. Und ich muss echt aufs Klo. Abfahrt auf der nächsten Runde nach Abstecher zum Lokus mit minus3. …Das Lesen noch nicht abgebrochen? Respekt! Du wolltest wirklich verstehen, was es mit dem Mysterium Verspätung auf sich hat. Das soll genügen und zum Schluss kann ich Dich nur wissen lassen, dass wir von Schöneweide nicht die wildesten Buslinien Berlins fahren.

Dschenghis Khan

Berlin-Schöneweide, Winter 2012

Sener fährt den Bus vor mir. Der hat ungefähr mit mir zusammen bei der BVG angefangen. Das ist ein Mensch der so lieb ist, dass ich ihn mir nicht ausdenken könnte. Nie schlecht gelaunt, bringt jeden Tag was zum Naschen für die Kollegen mit, wenn Du etwas brauchst, er kann das organisieren, für einen guten Preis. Ein super Typ durch und durch! Er stammt aus der Türkei, und ich würde behaupten, das sieht man ihm auch an. Nicht in jedem Stadtteil ist er so gern gesehen wie bei uns im Pausenheim. Er sagt, darum fährt er am liebsten in Neukölln und Kreuzberg. Bei uns hat er den Spitznamen „Bürgermeister von Neukölln“. In der Werbellinstraße kennt ihn jeder. Heute fahren wir beide in Köpenick.

Am Krankenhaus steigt ein älterer Herr ein und empört sich bei mir: „Sagense mal! Fahren denn bei ihnen jetzt schon die Kebapverkäufer? Kann ja wohl nicht wahr sein, ich hab extra auf den nächsten Bus gewartet!“
Was bist Du denn für eine Plinse denke ich, sage aber: „Selbst schuld, und hier fährt ’ne Frau! Heut is Minderheitentach! Wennde ’n deutschen Kerrel möchtest, musste bis übermorgen warten!“ mit gesenktem Kopf geht er nach hinten, vermutlich enttäuscht, dass ich in sein Klagelied nicht eingestimmt habe.

Noch einen Happen dööfer als der Typ bin nur ich, denn ich weiß Seners Namen aus der Zeitung. Uns hatte er sich von Anfang an als „Dschenghis“ vorgestellt und ich nahm das wie alle anderen so hin, begrüßte ihn so und dachte mir nichts dabei. Als ich Jahre später ein Interview mit ihm las, stand da aber: Sener Piskin. Meine erste Frage beim nächsten Treffen war klar. Seine Antwort: „Ach, die Deutschen können sich unsere Namen nie merken, wenn es nicht Ali oder Mohamed ist. Darum einfach Dschenghis, Dschinghis Khan kennt jeder in Deutschland, neue deutsche Welle!“ Ich glaub ich hab mich schon lange nicht mehr so durchschaubar gefühlt wie in diesem Moment. Würde mich nicht wundern, wenn noch immer viele Kollegen nicht wissen, wie er wirklich heißt.

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