Was sich so in Berliner Bussen abspielt. Und in einer Busfahrerin.

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Dschenghis Khan

Berlin-Schöneweide, Winter 2012

Sener fährt den Bus vor mir. Der hat ungefähr mit mir zusammen bei der BVG angefangen. Das ist ein Mensch der so lieb ist, dass ich ihn mir nicht ausdenken könnte. Nie schlecht gelaunt, bringt jeden Tag was zum Naschen für die Kollegen mit, wenn Du etwas brauchst, er kann das organisieren, für einen guten Preis. Ein super Typ durch und durch! Er stammt aus der Türkei, und ich würde behaupten, das sieht man ihm auch an. Nicht in jedem Stadtteil ist er so gern gesehen wie bei uns im Pausenheim. Er sagt, darum fährt er am liebsten in Neukölln und Kreuzberg. Bei uns hat er den Spitznamen „Bürgermeister von Neukölln“. In der Werbellinstraße kennt ihn jeder. Heute fahren wir beide in Köpenick.

Am Krankenhaus steigt ein älterer Herr ein und empört sich bei mir: „Sagense mal! Fahren denn bei ihnen jetzt schon die Kebapverkäufer? Kann ja wohl nicht wahr sein, ich hab extra auf den nächsten Bus gewartet!“
Was bist Du denn für eine Plinse denke ich, sage aber: „Selbst schuld, und hier fährt ’ne Frau! Heut is Minderheitentach! Wennde ’n deutschen Kerrel möchtest, musste bis übermorgen warten!“ mit gesenktem Kopf geht er nach hinten, vermutlich enttäuscht, dass ich in sein Klagelied nicht eingestimmt habe.

Noch einen Happen dööfer als der Typ bin nur ich, denn ich weiß Seners Namen aus der Zeitung. Uns hatte er sich von Anfang an als „Dschenghis“ vorgestellt und ich nahm das wie alle anderen so hin, begrüßte ihn so und dachte mir nichts dabei. Als ich Jahre später ein Interview mit ihm las, stand da aber: Sener Piskin. Meine erste Frage beim nächsten Treffen war klar. Seine Antwort: „Ach, die Deutschen können sich unsere Namen nie merken, wenn es nicht Ali oder Mohamed ist. Darum einfach Dschenghis, Dschinghis Khan kennt jeder in Deutschland, neue deutsche Welle!“ Ich glaub ich hab mich schon lange nicht mehr so durchschaubar gefühlt wie in diesem Moment. Würde mich nicht wundern, wenn noch immer viele Kollegen nicht wissen, wie er wirklich heißt.

Mysterious Sirius

Berlin-Altglienicke, Kosmosviertel

Wie verbringst Du Deine Pause an der Arbeit? Was Essen, eine rauchen, aufs Klo gehen? Ich auch, nur meistens schaut mir dabei jemand zu. Das sind die Fahrgäste, die auf der nächsten Fahrt bei mir mitfahren wollen. An fast jeder unserer Endhaltestellen ist das so und wenn man bereits zu spät ankommt, wird man als Fahrer immer interessanter.  Aber es gibt eine Forschungsstation, die das Leben der Busfahrer, wenn sie nicht fahren besonders gründlich untersucht. Das ist die Endhaltestelle Siriusstraße. Keiner von meinem Kollegen oder ich haben je verstanden, weshalb das so ist.

Hier stehen bei absolut jeder Pause Menschen. Obwohl der Vordermann vor einer Minute abgefahren ist, und man seine Rücklichter noch sieht. Obwohl dort nur ein Wohngebiet ist und man eigentlich als Anwohner irgendwann wissen müsste, wann der Bus fährt. Obwohl es Apps gibt, die inzwischen sogar bei Verspätung die tatsächliche Abfahrtszeit anzeigen. Und obwohl wir auf dieser Linie fast nie zu spät sind, weil sie durch ruhige Siedlungen fährt und es ausreichend Fahrzeit oben drauf gibt.

Natürlich ist es mir nicht angenehm, bei absolut jeder Lappalie begutachtet zu werden. Jemandem, der mich schonmal direkt vor meiner Scheibe beim Salatessen beobachtete, öffnete ich mal die Tür und bot ihm eine Gabel voll an. Aber irgendwann reichte mir auch Sarkasmus nicht, darum begann ich, dort in meinen 20 Minuten spazieren zu gehen. Die letzten Minuten vor der Abfahrt verbringe ich dann auf dem Parkplatz hinter der Haltestelle und beobachte die Beobachter. In drei Minuten ist Abfahrt, ja wo ist denn der Fahrer? Köpfe drehen sich, Hälse werden länger, mein Grinsen auf dem Parkplatz breiter. Es wird um den Bus herum geschlichen und durch die Frontscheibe gespäht. Meistens komme ich dann aus meiner Deckung und singe Westernhagens „Mach Dir keine Sorgen, es wird schon weitergehen“. Das kurioseste überhaupt ist aber, dass die meisten der Ausdauersitzer dann nur zwei Stationen weit fahren.

Spindlersfelder Sünde

Berlin-Spindlersfeld, 2010

Im Lottoladen am S – Bahnhof Spindlersfeld kennt man mich. Tagsüber haben wir dort mit dem 167er zwei Minuten Aufenthalt, und bis zur nächsten Haltestelle, die man bereits sehen kann, gibt’s noch mal zwei Minuten. Wie geschaffen, um sich einen dringend nötigen Kaffee zu besorgen, wenn nachts um zwei schon der Wecker klingelte. An der Endstelle im Köpenicker Wald ist nämlich keine Kaffee – Ausgabe. Wenn ich einfliege, wird er sogleich zubereitet, wie ich ihn möchte: klein, schwarz, aber im großen Becher, damit während der Fahrt nichts überschwappt. Alle anderen Kunden müssen dann kurz warten, ich muss schließlich weiter, vor der Tür orgelt meine Kutsche im Leerlauf. Das klappt mit den Jungs und Mädels da, ich mag die.Heute habe ich nachmittags den 167er. In Schöneweide steigt jemand zu, der fleißig einkaufen war: zwei große Beutel an den Schultern und einen Träger Mineralwasser. Kaum dass ich abgefahren bin, stöhnt er und ich kann auch erkennen, warum: die Folie ist gerissen. Um ihn herum kullern sechs Flaschen Selters, mit denen er nicht weiß, wohin. Ich frage, wo er aussteigt. Allende – Viertel. Ein Klacks, schnell in Spindlersfeld in den Lottoladen. Nein, heut keinen Kaffee, aber habter mal ne Tüte für mich? Ich erkläre kurz. Na klar, hamse. Beim Aussteigen bedankt sich der Einkäufer herzlich und ich freue mich, dass wenigstens einer mal gut von uns Busfahrern denkt. Da habe ich mich nicht verschätzt. In der Woche darauf bekomme ich einen Anruf von meinem Gruppenleiter. Der Mann bedankte sich schriftlich, oder wie das im BVG – Sprech heißt: „positive Fahrgasteingabe“.Zumindest denke ich das und glaube, gleich sagt mein Gruppenleiter mir was Nettes. Da bin ich schief gewickelt. Er sagt: Die ganze Situation könne sich ja nur zugetragen haben, weil ich gegen die Dienstanweisung verstoßen habe: „Beim Verlassen des Fahrzeuges ist der Motor abzustellen, dieses zu sichern und abzuschließen“. Da brauche ich keine Weiterbildung, das stimmt. Ich versuche es mit Relativierung: „aber überleg mal, der hat sich doch gefreut dass ihm einer hilft, wir müssen doch nicht auf Paragraphen rum reiten!“ Mein Vorgesetzter bleibt eisern. Mir ist schon klar, dass die Bezeichnung „Betriebsaufsicht“ bedeutet, dass die Verantwortlichen uns auf Verstöße hinweisen und bei Uneinsichtigkeit Konsequenzen walten lassen müssen. Aber komm schon! Der Bus war heile, trotz allem pünktlich und ein Mensch war kurz glücklich. Da steht die Firma doch gut da! Ich versuche es anders: „Schreib mir eine Abmahnung. Aber dann möchte ich bitte schwarz auf weiß: weil ich jemandem GEHOLFEN habe“. Nein, das passiert nicht. Er kommt mir entgegen und ich erhalte „eine mündliche Ermahnung in schriftlicher Form“, dieses mündliche Papier kam allerdings bei mir bis heute nicht an.Seitdem bitte ich meine Fahrgäste, sich nicht allzu detailgetreu zu bedanken. Aber ich werde auch in Zukunft niemandem meine Hilfe verweigern, wenn sie mich so wenig kostet./ps. Gewiefte Ermittler erkennen anhand der Liniennummer, wie lange das her ist. Der Gruppenleiter ist längst im Ruhestand. Am besten bewertet ihr eure Vorgesetzten nach euren eigenen Erfahrungen.

Judith

Sommer 2018

Die Auswahlkriterien dieser neuen Dating App klingen vielversprechend. Zwar schwebt trotzdem über allem „ich hätte gerne jemanden“ im Raum und mir ist das eigentlich zu bedürftig. Aber im falsche Namen ausdenken bin ich ganz gut und heiße jetzt Judith. Das klingt so souverän wie ich niemals sein werde, und schreckt bestimmt schonmal ab. Nachdem ich 355 Fragen beantwortet habe, wie pervers ich im Bett bin und welche politischen Fehlentwicklungen ich am wenigsten schlimm finde, wird mir genau eine Person vorgeschlagen, und er heißt Danilo. Ernsthaft? Ich bin hetero in Berlin und das ist alles? EIN Typ und der heißt auch noch SO? Nach 2 Wochen hab ich eine Nachichtenanfrage und öffne die App wieder. Sie ist von Danilo. Hupps, der hat wohl so ausgefallene Sachen angeklickt, dass ich auch das einzige Profil war, das ihm vorgeschlagen wurde. Vielleicht ist „Danilo“ ja auch nur eine gräuliche Tarnung. Dann müsste ich aber schon Tessa heißen, damit das Sinn ergibt. Ich habe frei und wir verabreden uns am Ostkreuz. Judiths Sicherheitsvorkehrungen: Wintermütze, Sonnenbrille, Halstuch, und eine Jacke in rot, denn Danilo habe ich offene Haare und schwarz angekündigt. Gut, dass ich das schon vor Jahren auf die harte Tour lernen musste. Ich erkenne ihn nägelkauend an einer Laterne stehen und weiß sofort, warum er nur Bilder von seinem Gesicht hochgeladen hat. Was für ein Pümpel. Umkehr, das Geld fürs Café versaufe ich lieber am See in der Hängematte mit mir selbst. Vielleicht reichen ja acht große Bier um mir einzugestehen, dass ich eh nur an Steffen denke, auch wenn der vergeben ist. Auf der Rückfahrt überlege ich noch, welche fadenscheinige Entschuldigung ich ihm auftische, lösche die App aber gleich ganz.

Joppenzauber

Berlin, 2009

Als ich vom Tochterunternehmen zur BVG wechselte, war das faktisch kein großer Unterschied: gleiches Gehalt, die selben Busse. Andere Linien durfte ich dann fahren, den 100er zum Beispiel. Und ich bekam neue Klamotten: diese Uniform, die in Berlin vermutlich jeder kennt. Wir Fahrer vom Tochterunternehmen waren die „Rotjacken“, hatten in manchen Kantinen alberner Weise separate Tische und standen beim Quatschen auf dem Hof auch meistens für uns. Ein bisschen zweite-Klasse-Gefühl war das schon. Nun endlich hatte ich meine blaue Jacke, mit Kronen – Teddy auf dem Ärmel und trug sie anfangs mit einer gewissen Euphorie. Nicht, dass ich einen Fetisch für die Buchstaben B, V und G hätte, sondern: Ab jetzt grüßt mich jeder Bus – und Bimmelkutscher. Ja, sogar die „Tunnelrutscher“ wie die U-Bahn – Fahrer von der „Oberfläche“ liebevoll genannt werden.
Laufe ich um 2.41 Uhr zwischen zwei Haltestellen, hält der Nachtwagen direkt vor meiner Nase. Ohne dass ich danach gefragt hätte. Sogar Kollegen mit Auto nehmen mich des nachtens mit zum Hof. Na klar, Dienstkutte! Wir gehören alle zusammen. Es ist, als würde plötzlich halb Berlin mich kennen, dabei bin ich doch nur die kleine Tine aus Leinefelde.

Dass man in dieser Garderobe nach einer Auskunft gefragt wird, ist vorprogrammiert und stört mich überhaupt nicht. Auf dem Weg zur Arbeit weiß ich nicht, welche Störungen es gerade vor Ort gibt – erst recht nicht bei der S-Bahn – das erklärte ich bestimmt schon tausenden Menschen. Oft stecke ich den Ärger darüber trotzdem ein, Jacke sei dank. Im Sommer trage ich Bluse und Weste, da werde ich beim Spazieren gehen in der Pause von Cafébesuchern schon mal für die Kellnerin gehalten. „Noch ’ne Cola willste? Ik hab nur Fahrscheine im Angebot!“ sage ich dann und zeige auf mein kleines gelbes Quadrat.

Was ich allerdings nie ganz verstehen werde, ist die magische Wirkung dieser Jacke (oder aller anderen Kleidungsstücke mit den drei Buchstaben) auf Jugendliche. In einem leeren S-Bahn – Waggon werden Inhaber einer Hampelrap – Bluetoothbox und ihre Gesinnungsgenossen Dich erkennen. Und sich trotz freier Platzwahl zielgenau neben Dich pflanzen. Fahre ich privat S – Bahn, passiert mir das nie. Fahre ich mit dem Rad, wird die Jacke selbst im Suff erkannt und trotz 30 Kilometern Bürgersteig auf den Radweg gelaufen: „Eyyy, fährste uns nach hause?“ Irgend ein Magnet muss da in der Jacke sein. Ein bisschen angeben und provozieren ohne Risiko? Nimm Dir eine BVG Uniform! War der Auftritt der unbehaarten Sprösslinge halbwegs originell, applaudiere ich sogar in Zeitlupe.

Wird allerdings das Lied „Fick die BVG“ angestimmt, kann ich auswendig mitsingen. Da werden die dann stutzig. „Ja wattenwattenwatten? Haick allet von euch jelernt!“

Reifenschnitte

Eichsfeld, 2005

Das Erste, was mir der Meister in der Werkstatt gezeigt hat, war Reifen nachschneiden: Einspannen, Steine aus dem Profil pulen, Profilkennung ablesen, das entsprechende Messer einsetzen und Feuer frei, Marianne! Sieht aus, als würde er in Zeitlupe Boogie tanzen und Schwupp-schwupp, nach einer Viertelstunde ist er fertig. Das ist mit Sicherheit besser als das, was ich in der ersten Woche durfte: Halle scheuern. Dicker Arsch mit Furz, bin ich hier die Putzfrau, oder was? Ich wollte zu den Schlossern!

Er zeigt auf zwölf weitere Reifen: „Wennde die ferdsch hast, kannste heime!“
Astrein! Da kann ich noch zu Mario fahren und mit ihm das Thema Fortpflanzung vertiefen. Das wird unser Nachmittag!

Zum Feierabend sind sechs Reifen geschafft, mehr Messer versengt als mir erlaubt waren und mein Liebesleben kann ich auch vergessen. Geschweige denn, mir eine Stulle zum Abendbrot schmieren: Meine Hände sind ein einziger purpurfarben überhauchter Krampf. Langsam wird mir klar, weshalb die Unterarme der Gesellen mit meinen Oberschenkeln mithalten könnten. Und wieso ich von ihnen am ersten Tag so argwöhnisch begutachtet wurde.

Ein halbes Jahr später konnte ich beim Radmuttern festziehen einen ganzen Bus schwanken lassen, aber Muskeln wie die anderen bekam ich nicht. Dafür kannte ich bei jeder Baureihe die Lage der Schmiernippel und fand sie selbst im schneeverklebten Radkasten. Eigentlich wollte ich die Busse viel lieber fahren, es haperte einzig, weil man dazu 21 sein musste. Geschadet hat mir die Werkstatt aber keinesfalls. Von Zeit zu Zeit wird ein Bus mal krank oder zickig und da weiß ich mir meist zu helfen.

Blutfinger

Erfurt, 2001

Mit 14 war ich Beatles-Fan. Naja, eigentlich fand ich nur McCartney gut, weil der Bass gespielt hat. Das wollte ich auch. Schön rumknarzen. Keiner merkt, dass man da ist, aber alle würden merken, wenn man fehlt. Diese Rolle gefällt mir. In unserem Kaff gab’s zwar ’ne Musikschule, aber Bassunterricht nicht – is ja eh wie Gitarre. Nee! Gitarre ist was für Rampensäue, die auf minutenlange Solos stehen. Ich will blubbern, dass man es im Magen spürt.Mit 16 ziehe ich aus in die große Stadt Erfurt und gehe gleich nach dem ersten Schultag in die Musikschule. Auf der Treppe treffe ich einen rauchenden Typ mit Tony-Curtis-Gedenkfrisur und frage ihn, ob man hier Bassgitarre lernen kann. Er mustert mich skeptisch, stellt sich als Wagner vor und nimmt mich gleich mit ins Unterrichtszimmer. Ich solle mir mal einen der dort stehenden Bässe umhängen. Befehl ausgeführt. „Danke, das reicht mir. Du hast den Hals richtig rum gehalten und bist nicht umgefallen! Du kannst bei mir Bass lernen!“ Für den Anfang bekam ich sogar ein Leihinstrument von der Musikschule und ab da übte ich mir die Finger blutig. Das lag auch daran, dass Wagner ein Motivationstalent war. „Die Übung is echt schwer, die schaffste nicht bis nächste Woche.“ Aah, das woll’n wir doch mal seh’n, Du Lackaffe! Noch heute, wenn wir uns mal auf dem jährlichen Musikschulfest treffen, behauptet er, dass ich berühmt werde. Das wird wohl höchstens als Quereinsteiger noch was. Die erste Band, in die ich geraten bin, bestand aus zwei Nirvana-Fans und mir, genannt ‚Beagle Three‘. Meistens haben wir aber nicht geprobt, sondern auf dem Dach des Proberaums gekifft und darüber geträumt wie es wäre wenn wir nach Amsterdam reisen, wegen den ganzen Coffeeshops. Für den Proberaum bezahlen mussten wir nichts, denn wir waren am Freitag immer die letzten und haben sauber gemacht. Eigentlich nicht. Wir haben mit den Staubsaugern getanzt, unsere Haare vor Ventilatoren wehen lassen und so was Wildes.Auftritte von Beagle Three gabs auch. Setlist wurde zwei Minuten vor dem Auftritt festgelegt, ich musste die Gitarre stimmen, denn unser Gitarrist war nur gut im performen, mit Musik und Instrumenten hatte er es nicht so. Das Publikum bestand meist aus circa 180 Leuten, die mit verschränkten Armen dastanden und auf die „richtigen“ Bands warteten, die nach uns kamen – Und unseren zehn Fans, die aber Pogo machten für 50. Ziemlich oft habe ich nach solchen Auftritten die letzte Bahn nachhause verpasst. Das Internat hatte am Wochenende zu und irgendwo her musste ich ja frische Schlüpper bekommen. Ich verbrachte also mehrere Freitagnächte in Erfurt mit einer Bassgitarre, einem Reiserucksack voll Schulkram und Klamotten, bis Samstag früh endlich der nächste Zug kam. Das Erfurter Nachtleben war wegen Minderjährigkeit und mangels Kohle keine Option. Und die Eltern der anderen Bandmitglieder waren nicht ganz so aufgeschlossen gegenüber Vagabunden aus der Provinz wie ihre Söhne. Keiner hat gesagt, ein Musikerkeben würde einfach werden.

Abhauen

Eichsfeld, 2000

Das wollte ich, als die Neunziger zuende gingen. Nur zuhause weg. Weg von streitenden Eltern, die übereinander her zogen, auch nach der Scheidung. Weg von Papas so genanntem „Freund“, der es mir ordentlich vermieste, neugierig auf Jungs zu werden – lange bevor ich wusste, dass es dafür ein Wort gibt, das ‚Sex‘ lautet. Weg von dem ganzen Schweigen und der Heuchelei, die so ein Zusammenleben erst möglich machen. Zu guter Letzt weg von Allen, die mir erzählten, wo ich ‚als Mädchen‘ nichts zu suchen habe: im Skatepark, in Rockbands, beim Graffiti sprayen und sowieso, überhaupt, erst recht nichts bei den Busfahrern!

Wohin fliehen? Keine Ahnung. Außerdem konnte ich mein 13 Jahre jüngeres Brüderchen nicht im Stich lassen. Mama hat viel geweint wegen der Trennung. Der Kleine auch, konnte aber noch keinem sagen warum. Im Kinderwagen nahm ich ihn mit zu Freundinnen. Die konnten mit einem Baby nichts anfangen. Ich konnte ein Baby wickeln, füttern und trösten – niemand zwang mich dazu. Ich fühlte mich verantwortlich für diesen Winzigmensch. Von empörungsgeilen Passanten wurde ich als „Mutter in dem Alter“ geächtet. Na und, dass ich für die meisten aus Prinzip schon scheiße bin, wenn ich tue wonach mir ist, war ich gewohnt.

Meine Schulnoten waren so mies wie meine Stimmung. Für welche Zukunft sollte ich die denn verbessern? Zumindest das mir bekannte Erwachsenenkram war es doch wohl nicht wert, bei DEM Scheiß wollte ich auf keinen Fall mitmachen! Lernen, pfff. Da fahre ich lieber in den Wald und lese dort zornig Franz Kafka, der Typ versteht was von verkehrter Welt.

Mit riesiger Hilfe meiner großen Schwester konnte ich als Sechzehnjährige nach Erfurt aufs Internat gehen und alles ausprobieren, was bei den Landeiern sinnloser Weise verpönt war. Ich wurde zur Streberin, damit auch ja niemand einen Grund hätte, mich von dort wieder weg zu holen. Schwestern half mir so gut es ging bei der Eingewöhnung, aber die zog’s noch weiter weg, nach Rotterdam. Warum ich ausgerechnet Busfahrerin werden wollte und nix studieren, verstand sie nicht nur nicht, sie fand es doof. Wie gehabt, ich kanns keinem recht machen.

Zur Zwischenprüfung nach Berlin bestellt, ahnte ich: das bisher Erlebte war nur ein zarter Hauch des Möglichen. Ich wurde abermals zur Streberin, damit die BVG auch ja keinen Grund hätte, meine Bewerbung nach dem Abschluss abzulehnen.

Unser Berliner Ausbilder hat uns fachlich bestens auf die Prüfungen vorbereitet. Er war dazu ein sehr aufmerksamer Mensch, der fand, dass ich mich über meine Prüfungsergebnisse ein bisschen zu wenig freue und mit mir demzufolge etwas nicht stimmen konnte. Da fragt jemand anderes als ich selbst, wie es mir geht? Und der will auch noch ne ehrliche Antwort? Das konnte ich kaum glauben. Er unterstützte mich, zur Bewältigung meiner dunklen Seiten jemanden zu finden, der sich auskennt. Danke Tobi, wegen Dir glaube ich an Menschen!

Der Berliner Busverkehr in Schicht und eine Therapie, bei der ich das Schwert der Wahrheit auf meine Seele richten musste. Zur Leichtigkeit hin brauchte es seine Jahre. Doch dafür wurde ich belohnt. Es gab keinen einzigen Tag, an dem ich mich zurück gewünscht hätte.

Der süße kleine Bengel wird heute 24, ist einen Kopf größer als ich und studiert hier Pharmazie. Diesen Studiengang korrekt schreiben ist auch schon alles, was ich davon verstehe. Blitzgescheit wie er es ist, werde ich nicht mehr. So’n abgedroschenen Schmus wie: „Heimat ist kein Ort“ würden wir jedenfalls beide unterschreiben, wenn wir müssten.

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