Eichsfeld, 2000

Das wollte ich, als die Neunziger zuende gingen. Nur zuhause weg. Weg von streitenden Eltern, die übereinander her zogen, auch nach der Scheidung. Weg von Papas so genanntem „Freund“, der es mir ordentlich vermieste, neugierig auf Jungs zu werden – lange bevor ich wusste, dass es dafür ein Wort gibt, das ‚Sex‘ lautet. Weg von dem ganzen Schweigen und der Heuchelei, die so ein Zusammenleben erst möglich machen. Zu guter Letzt weg von Allen, die mir erzählten, wo ich ‚als Mädchen‘ nichts zu suchen habe: im Skatepark, in Rockbands, beim Graffiti sprayen und sowieso, überhaupt, erst recht nichts bei den Busfahrern!

Wohin fliehen? Keine Ahnung. Außerdem konnte ich mein 13 Jahre jüngeres Brüderchen nicht im Stich lassen. Mama hat viel geweint wegen der Trennung. Der Kleine auch, konnte aber noch keinem sagen warum. Im Kinderwagen nahm ich ihn mit zu Freundinnen. Die konnten mit einem Baby nichts anfangen. Ich konnte ein Baby wickeln, füttern und trösten – niemand zwang mich dazu. Ich fühlte mich verantwortlich für diesen Winzigmensch. Von empörungsgeilen Passanten wurde ich als „Mutter in dem Alter“ geächtet. Na und, dass ich für die meisten aus Prinzip schon scheiße bin, wenn ich tue wonach mir ist, war ich gewohnt.

Meine Schulnoten waren so mies wie meine Stimmung. Für welche Zukunft sollte ich die denn verbessern? Zumindest das mir bekannte Erwachsenenkram war es doch wohl nicht wert, bei DEM Scheiß wollte ich auf keinen Fall mitmachen! Lernen, pfff. Da fahre ich lieber in den Wald und lese dort zornig Franz Kafka, der Typ versteht was von verkehrter Welt.

Mit riesiger Hilfe meiner großen Schwester konnte ich als Sechzehnjährige nach Erfurt aufs Internat gehen und alles ausprobieren, was bei den Landeiern sinnloser Weise verpönt war. Ich wurde zur Streberin, damit auch ja niemand einen Grund hätte, mich von dort wieder weg zu holen. Schwestern half mir so gut es ging bei der Eingewöhnung, aber die zog’s noch weiter weg, nach Rotterdam. Warum ich ausgerechnet Busfahrerin werden wollte und nix studieren, verstand sie nicht nur nicht, sie fand es doof. Wie gehabt, ich kanns keinem recht machen.

Zur Zwischenprüfung nach Berlin bestellt, ahnte ich: das bisher Erlebte war nur ein zarter Hauch des Möglichen. Ich wurde abermals zur Streberin, damit die BVG auch ja keinen Grund hätte, meine Bewerbung nach dem Abschluss abzulehnen.

Unser Berliner Ausbilder hat uns fachlich bestens auf die Prüfungen vorbereitet. Er war dazu ein sehr aufmerksamer Mensch, der fand, dass ich mich über meine Prüfungsergebnisse ein bisschen zu wenig freue und mit mir demzufolge etwas nicht stimmen konnte. Da fragt jemand anderes als ich selbst, wie es mir geht? Und der will auch noch ne ehrliche Antwort? Das konnte ich kaum glauben. Er unterstützte mich, zur Bewältigung meiner dunklen Seiten jemanden zu finden, der sich auskennt. Danke Tobi, wegen Dir glaube ich an Menschen!

Der Berliner Busverkehr in Schicht und eine Therapie, bei der ich das Schwert der Wahrheit auf meine Seele richten musste. Zur Leichtigkeit hin brauchte es seine Jahre. Doch dafür wurde ich belohnt. Es gab keinen einzigen Tag, an dem ich mich zurück gewünscht hätte.

Der süße kleine Bengel wird heute 24, ist einen Kopf größer als ich und studiert hier Pharmazie. Diesen Studiengang korrekt schreiben ist auch schon alles, was ich davon verstehe. Blitzgescheit wie er es ist, werde ich nicht mehr. So’n abgedroschenen Schmus wie: „Heimat ist kein Ort“ würden wir jedenfalls beide unterschreiben, wenn wir müssten.